Interview vom 04.08.2020, von Inga Rottländer.
Es gibt so einige Tätigkeitsfelder, auf denen Raul Krauthausen aktiv ist: Autor, Moderator, Medienmacher oder Botschafter. Die Liste ist lang. Doch Raul Krauthausen ist vor allem eines: Selbsternannter Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Als Rollstuhlfahrer schaut Krauthausen ganz genau hin, wo Barrieren im Alltag existieren und welchen Herausforderungen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind. Bei der Initiative JOBinklusive setzt sich Krauthausen besonders stark dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Im Interview sprach er nun mit uns über die Herausforderung der Inklusion und die Ängste vieler Unternehmen.
Lieber Raul, in der UN-Behindertenrechtskonvention ist festgelegt, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Arbeit haben auf Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen. In Deutschland ist die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung trotzdem doppelt so hoch wie die der Menschen ohne Behinderung. Woran liegt das?
Deutschland hat vor elf Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben, doch unser exklusives System ist viel älter. Wir haben es uns darin gemütlich gemacht. Gerade in dem Bereich Arbeit beobachten wir ein sehr traditionelles und eingefahrenes System. Hier hat sich nur sehr wenig geändert. Je nach Behinderung sieht das System bestimmte Wege vor. In den 60er/70er Jahren wurden Behindertenwerkstätten als etwas Innovatives eingerichtet, doch seither hat sich dieses System kaum verändert und Menschen mit Behinderungen lernen und arbeiten überwiegend in solchen Sondereinrichtung. Das ist bequem für uns als Gesellschaft, denn so sind sie weg aus dem gesellschaftlichen Bild und damit raus aus unserem Bewusstsein. Wer durch dieses Sondersystem auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ankommt, ist häufig lange arbeitslos, weil Menschen mit Behinderungen zum einen immer noch in Deutschland schlechtere Bildungschancen haben und gleichzeitig auf mangelnde Barrierefreiheit und viele Vorurteile treffen.
Was sind für Menschen mit Behinderung die größten Herausforderungen bei der Jobsuche?
Menschen mit Behinderung stoßen bei der Jobsuche auf viele Herausforderungen. Die größte Herausforderung ist oft fehlende Information. Welche Rechte haben Menschen mit Behinderungen? Was muss vorher beantragt werden? Welche Unterstützung können Menschen mit Behinderungen überhaupt bekommen? Hinzu kommen strukturelle Barrieren seitens der Behörden. Menschen mit Behinderungen werden von den Ämtern begutachtet und dann in spezielle Maßnahmen gepackt. Diese bereiten aber nur in seltenen Fällen auf die wirkliche Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor. Die Beantragung von Unterstützungen ist sehr kompliziert und nur schwer verständlich, sodass es bei der Beantragung häufig zu Schwierigkeiten kommt. Das müssen wir dringend ändern.
Warum fällt es Unternehmen deiner Meinung nach so schwer, für mehr Inklusion zu sorgen? Wo liegen die Hürden?
Es gibt viele Berührungsängste bei den Arbeitgeber*innen. Wie gehe ich mit einem Menschen mit Behinderung um? Was muss ich als Betrieb bereitstellen? Hierbei spielen natürlich auch Vorurteile eine Rolle, z. B. dass Menschen mit Behinderungen viel häufiger krank und weniger leistungsfähig seien. Es fehlt also häufig auch hier an Informationen. Gleichzeitig stoßen Unternehmen natürlich auch auf starre Strukturen. Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen einstellen wollen, scheitern oft an den langen und komplizierten Wegen für notwendige Unterstützungen. Gleichzeitig fällt es Unternehmen aber auch schwer, ihre Strukturen zu verändern und Arbeitsplätze anzupassen. Es gibt eine Stellenbeschreibung und wenn jemand mit Behinderung auf diese passt, dann ist es gut, doch häufig fehlt es an dem Willen und auch der Vorstellung, Arbeitsplätze oder Tätigkeiten neu zu strukturieren oder anzupassen. Bei JOBinklusive beobachten wir, dass die Führungsetage zwar Inklusion und Diversity umsetzen möchte, doch scheitert es dann daran, dass die Mitarbeitenden bei dieser Entscheidung nicht mitgenommen werden oder nicht wissen, wie es gemeinsam geht.
Ist es für große Unternehmen und Konzerne einfacher, Inklusion zu leben?
Nicht unbedingt. Große Unternehmen haben zwar mehr Ressourcen, Inklusion umzusetzen. In großen Unternehmen gibt es z. B. Strukturen, wie die Schwerbehindertenvertretung oder andere Ansprechpartner*innen für Inklusion, die diese mit umsetzen. Große Unternehmen haben auch einfacher die Möglichkeit, gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Sei es die Anschaffung eines Bürostuhls oder einer barrierefreien Software. Häufig gibt es eh schon einen Fahrstuhl und eine barrierefreie Toilette. In großen Unternehmen herrscht mehr das Bewusstsein, dass alle von Barrierefreiheit profitieren. Gleichzeitig sind die Aufgaben, die eine Person auf einer bestimmten Stelle erfüllen muss, klarer definiert. In einem kleinen Unternehmen kann ein*e Mitarbeiter*in schneller und einfacher kleinere Handreichungen und Unterstützungen leisten bzw. Arbeitsprozesse können den Anforderungen des Menschen mit Behinderungen schneller angepasst werden.
Hast du Verständnis für die Unsicherheit vieler Unternehmen?
In einem gewissen Maß habe ich Verständnis dafür, doch bin ich mittlerweile echt ungeduldig. Wir reden seit mindestens elf Jahren über Inklusion. In dieser Zeit hätte man sich einige Gedanken machen, Unsicherheiten abbauen und Prozesse für Inklusion und Barrierefreiheit entwickeln können. Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ist Inklusion übrigens nicht mehr einfach nur eine gute Sache, die Unternehmen freiwillig umsetzen können, sondern Inklusion ist ein Menschenrecht – auch im Bereich Arbeit. Andere benachteiligte Gruppen sind in diesem Bereich viel weiter.
Kann die zunehmende Digitalisierung ein Beschleuniger für mehr Inklusion auf dem Arbeitsmarkt sein?
Die Digitalisierung ist an vielen Stellen sehr hilfreich, um mehr Inklusion zu erreichen. Sie ermöglicht flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten. Menschen mit Behinderungen sind durch die Digitalisierung nicht mehr darauf angewiesen, dass Orte zugänglich sind. Die erschwerte Mobilität von Menschen mit Behinderungen fällt weg und Ressourcen können besser eingeteilt werden. Die Flexibilität ermöglicht Menschen mit Behinderungen ihren Alltag, der oft viel Organisation rund um die Behinderung erfordert, mit der Arbeit in Einklang zu bringen. Doch auch digitale Angebote können Barrieren haben: So ist es wichtig, dass die Software auch mit einem Screenreader zugänglich ist oder die Bedienung mit der Tastatur erfolgen kann. Menschen mit Behinderungen brauchen gegebenenfalls Deutsche Gebärdensprache oder auch Leichte Sprache, um Zugang zu digitalen Angeboten und Veranstaltungen haben zu können.
Reden wir abschließend über positive Beispiele: Wo funktioniert Inklusion bereits gut?
Positive Beispiele gibt es viele, doch leider kennt die kaum jemand. Wir Sozialheld*innen haben deshalb die Website die-andersmacher.org ins Leben gerufen. Dort porträtieren wir Menschen mit Behinderungen, die nicht in Sondereinrichtungen arbeiten, sondern einen inklusiven Weg gehen. Dort gibt es den Tischler im Rollstuhl oder die Schauspielerin mit Down Syndrom. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Deutscher Industrie- und Handelskammertag e.V., Zentralverband des Deutschen Handwerks e.V. (ZDH) zeigen auf http://www.inklusion-gelingt.de/ ebenfalls Beispiele, wie Inklusion auf dem Arbeitsmarkt funktionieren kann. Darüber hinaus gibt es viele kleine Organisationen, die ein inklusives Arbeiten unterstützen. Einige davon sind die sogenannten anderen Leistungsanbieter, die eine Alternative zur Werkstatt für Menschen mit Behinderungen bieten. Auch Organisationen der Unterstützten Beschäftigung helfen erfolgreich dabei, dass mehr Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten.
Es gibt immer mehr Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen anstellen und das nötige Arbeitsumfeld schaffen, die das aber nicht an die große Glocke hängen, sondern für die das eine Selbstverständlichkeit ist: Dazu gehören SAP, Boehringer Ingelheim, aber auch kleine Unternehmen, wie die Berliner Bäckerei Beumer & Lutum oder das Repro- & Werbezentrum Prenzlauer Berg.
(Quelle: Stepstone Deutschland)