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Seltene Erkrankungen sind nicht selten, werden aber zu selten erkannt. Woran liegt das? Wie lässt sich das ändern?

Seltene Erkrankungen werden oft nicht früh genug erkannt. Dabei sind weltweit mehr als 300 Millionen Menschen betroffen, davon in Deutschland vier Millionen, die meisten von Geburt an. Diese Menschen und ihre Angehörigen benötigen dringend mehr Aufmerksamkeit, denn sie sind auf schnelleren Zugang zu zuverlässigen Diagnosen, angemessenere Behandlungen und eine inklusivere Gesellschaft angewiesen. Das ist die Mission der Organisatoren des Rare Disease Day, des internationalen Tags der seltenen Erkrankungen.

Das ist auch die Mission von Professor Martin Mücke, dem Leiter des Zentrums für seltene Erkrankungen an der Uniklinik RWTH Aachen (ZSEA). Und das ist ein Grund, warum er gemeinsam mit der Schauspielerin und Regisseurin Esther Schweins seit drei Jahren den von Daniel von Rosenberg produzierten Podcast „Unglaublich krank – Patienten ohne Diagnose“ aufnimmt, mehr als 30 Folgen gibt es bislang.

Zum Tag der seltenen Erkrankungen erscheint ein Spezial mit Entertainer Hape Kerkeling, der sich wie Esther Schweins im Beirat des ZSEA engagiert. „Zeigen diese seltenen Erkrankungen nicht eigentlich auch, wie unfassbar individuell wir alle sind?“, fragt Hape Kerkeling im Podcast. Was sagt Experte Martin Mücke dazu? Im Interview mit Kian Tabatabaei erläutert er gemeinsam mit Daniel von Rosenberg, was seltene Erkrankungen mit personalisierter Medizin zu tun haben und welche Chancen Datenerhebung und Künstliche Intelligenz bei Entdeckung und Behandlung bieten.

Herr Professor Mücke, Herr von Rosenberg, wieso gibt es einen Aktionstag für seltene Erkrankungen, aber keinen für gewöhnliche?

Martin Mücke: Gewöhnliche Erkrankungen sind einfach mehr im Fokus, über sie wird sehr häufig gesprochen. Bei seltenen Erkrankungen ist das anders. Und das, obwohl sie in ihrer Gesamtzahl den großen Volkskrankheiten entsprechen. Einzelne seltene Erkrankungen gehen in der großen Masse der gewöhnlichen Erkrankungen unter.

Daniel von Rosenberg: Der Tag der seltenen Erkrankungen bietet kleineren Interessengruppen, die keine Lobby haben, die Möglichkeit, ihre Kräfte zu bündeln und so mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.

Gibt es etwas, das seltene Erkrankungen gemeinsam haben, außer, dass sie selten sind?

Mücke: Nein, wir sprechen über ein heterogenes Feld, über Erkrankungen, die häufig nichts miteinander zu tun haben. Und weil das so ist, gibt es anders als bei den großen Volkskrankheiten nicht viele, die sich damit auseinandersetzen, sondern weltweit nur wenige Spezialisten.

Von Rosenberg: Hape Kerkeling sagt in unserem Podcast: „Zeigen diese seltenen Erkrankungen nicht eigentlich auch, wie unfassbar individuell wir alle sind? Wir versuchen, das alles zu normieren und irgendwie einzuordnen. Vielleicht ist das alles gar nicht so leicht einzuordnen und man muss bei jedem genau hinschauen.“ Damit schlägt er eine Brücke zur sogenannten personalisierten Medizin, die in Zukunft auch angesichts des technischen Fortschritts sicher eine größere Rolle spielen wird. So ist der moderne Umgang mit seltenen Erkrankungen auch ein Beispiel für einen Paradigmenwechsel in der Medizin: vom Schubladendenken hin zu individuellerer Diagnostik und Therapie.

Zukunftsmusik. Verhindern bornierte Ärzte noch zu häufig, dass seltene Erkrankungen auffallen?

Mücke: Nein, das würde ich so nicht sagen. Man muss unterscheiden: Beispielsweise werden Kinder häufig recht schnell von Kinderärzten an Fachzentren überwiesen, an Kinderkliniken oder direkt an ein Zentrum für seltene Erkrankungen. Bei Menschen, bei denen eine seltene Erkrankung später auftritt, handelt es sich häufig um sogenannte Drehtürpatienten, die regelmäßig Ärzte besuchen, die unterschiedliche Symptome zeigen, von denen oft nicht klar ist, ob sie nicht vielleicht auch psychosomatischer Natur sind. Hinzu kommt, dass die Anzahl der Hausärzte in Deutschland stetig abnimmt. Im Schnitt haben sie etwa 7,6 Minuten Zeit pro Patient pro Konsultation. Einen Patienten mit langer und umfangreicher Krankengeschichte in dieser Zeit aufzuklären, ist so gut wie unmöglich. Und auch bei den Fachärzten, an die diese Patienten in der Regel überwiesen werden, benötigen die Patienten oft Glück, denn das Wissen über seltene Erkrankungen ist auch bei Medizinern nicht unbedingt weit verbreitet.

4 Zentren für seltene Erkrankungen gibt es bundesweit, unter anderem an der Uniklinik Aachen. Was geschieht dort? Und wieso sind sie so wichtig?

Mücke: Ein Zentrum für seltene Erkrankungen ist eine Anlaufstelle für Erkrankte mit einer seltenen Erkrankung oder auch Angehörige von Betroffenen, die nach Informationen und Behandlungsmöglichkeiten suchen, aber auch für Patienten ohne Diagnose. Dort werden die Aktenberge, die einige Patienten über die Jahre angehäuft haben, analysiert und aufgearbeitet. Diese Fälle werden dann von Ärzten verschiedener Fachrichtungen besprochen und beraten. Nach erfolgter Diagnose können die Patienten dann zur Behandlung an spezialisiertere Zentren, sogenannte B-Zentren, weitergeleitet werden.

Betroffen sind nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch ihre Familien, ihre Freunde, ihr Umfeld. Man denkt an den Film „Lorenzos Öl“, an Nick Nolte, an Susan Sarandon, an Eltern, die verzweifelt nach Gründen suchen, warum es ihrem Kind schlecht geht.

Mücke: Das gibt es ganz häufig. Viele Familien sind total belastet und damit auch ihr soziales Umfeld. Viele Menschen haben plötzlich nicht einmal mehr Zeit, ihre Freundschaften oder ihre Partnerschaften zu pflegen, weil sie sich rund um die Uhr um ihr erkranktes Kind kümmern.

Wie muss ein Gesundheitssystem aussehen, dass diesen Menschen hilft?

Mücke: Wir haben mehrere Probleme, angefangen bei dem erwähnten zunehmenden Ärztemangel. Mehr als 50 Prozent der niedergelassenen Hausärzte gehen vermutlich, wenn sie nicht bis ins hohe Alter arbeiten wollen, bis 2030 in den Ruhestand. Das verschlechtert das System logischerweise allgemein, aber auch die Situation für Menschen mit seltenen Erkrankungen im Speziellen. Hilfreich wären schon vermeintlich einfache Sachen, zum Beispiel größere finanzielle Unterstützung für die Zentren für seltene Erkrankungen. Diese werden in Nordrhein-Westfalen aus Bordmitteln der Universitätskliniken finanziert, es gibt keine verhandelten sogenannten Zentrumszuschläge. Damit sind die Mittel, etwa für Personal, sehr eingeschränkt. Das führt unter anderem dazu, dass Menschen, die bei uns anfragen, leider immer noch relativ lange auf einen Termin warten müssen. Mit den aktuellen Miteln sind wir aktuell an unseren Kapazitätsgrenzen.

Von Rosenberg: Und daher ist es uns so wichtig, ein noch größeres Bewusstsein für dieses wichtige Thema zu schaffen. Eines sollte uns klar sein: Wir alle sind umgeben von Menschen, die an seltenen Erkrankungen leiden.

Sie wollen Bewusstsein schaffen für Erkrankungen mit Namen wie Adrenoleukodystrophie und Morbus Gaucher. Grundsätzlich scheinen Medizinerinnen und Mediziner Fremdwörter zu mögen und häufig kein großes Interesse daran zu haben, verständlich zu sein.

Von Rosenberg: Patienten sollten ihre Ärzte verstehen können, ohne dafür einen medizinischen Dolmetscher zurate ziehen zu müssen. Die Zeit ist auch in diesem Zusammenhang reif für ein Umdenken.

Mücke: Deswegen versuchen beispielsweise wir am Zentrum für seltene Erkrankungen auch, verständliche Arztbriefe zu schreiben, keine Briefe für die Behandler, sondern für die Patienten.

Welche Chance bietet Digitalisierung beziehungsweise Künstliche Intelligenz? Wird es 2074 noch Patienten ohne Diagnose geben?

Mücke: Die Medizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant verändert und ist in vielen Bereichen viel besser geworden. Künstliche Intelligenz kann ähnlich wie Röntgenstrahlen und Penicillin ein „Gamechanger“ sein. Ich denke da vor allem an das Thema personalisierte Medizin, an die Entwicklung neuartiger Medikamente, an das effizientere Durchforsten großer Datenmengen und die daraus resultierenden frühzeitigen Diagnosen, die auch schnellere Behandlungen ermöglichen. Wir befinden uns mitten in einer medizinischen Revolution.

Professor Martin Mücke ist Facharzt für Allgemeinmedizin und seit Oktober 2021 Inhaber des neu gegründeten Lehrstuhls für digitale Allgemeinmedizin an der Uniklinik RWTH Aachen. Daneben ist er Vorstandssprecher des Zentrums für seltene Erkrankungen Aachen.

Über diesen QR-Code gelangen Interessierte direkt zum Podcast-Spezial mit Hape Kerkeling.

Daniel von Rosenberg erdachte und entwickelte jahrelang non-fiktionale Fernsehformate. Heute produziert er mit einer Agentur in Zusammenarbeit mit einem Pharmaunternehmen den Podcast „Unglaublich krank – Patienten ohne Diagnose“, der von Martin Mücke und der Schauspielerin und Regisseurin Esther Schweins moderiert wird. Dabei gehen sie rätselhaften Krankheitsfällen auf die Spur, die erst am Ende jeder Episode Aufklärung finden. Für den Podcast „Mückes Mikro-Medizin“ sitzt Daniel von Rosenberg gemeinsam mit Martin Mücke selbst am Mikrofon.

Die Podcasts sind über sämtliche Streamingdienste erreichbar.

Quelle: Aachener Zeitung 29.02.2024

 

 

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